„Wo ich wohne“

Die versteckte und gar nicht poetische Stadt… Die große österreichische Schriftstellerin und Dichterin Ilse Aichinger (1921-2016) kannte fast jede Seitenstraße Wiens, gezwungen, sich während des Zweiten Weltkriegs so weit wie möglich von den Behörden und Mitbürgern fernzuhalten, als sie sich als Zwangsarbeiterin, als „Halbjüdin ersten Grades“, identifizierte und fast ihre gesamte Familie in Konzentrationslagern vernichtet wurde.

Anlässlich ihres 100. Geburtstags (1. November 1921) bietet das Österreichische Kulturforum Bukarest exklusiv für Rumänien die außergewöhnliche Filmdokumentation „Wo ich wohne – ein Film für Ilse Aichinger” von Christine Nagel (Österreich, 2014) an. Der Film ist  bis 16. Dezember verfügbar.

Weitere Informationen und Zugriff auf den Film – https://bit.ly/IlseAichingerFilm

„Das Stille, Beobachtende und Absurde macht das Geheimnis von Ilse Aichingers Poesie aus, das die Filmbilder von ‚Wo ich wohne‘ bewahren. Figuren aus Erzählungen werden lebendig in einem Haus, dessen Stockwerke scheinbar nach unten sinken. Auch die von Ilse Aichinger gedrehten, nie gezeigten Super-8-Filme halten das Erstaunen darüber wach, dass wir uns vorfinden, und wie wir uns vorfinden. Der Film verführt auf sinnliche Weise, sich auf das Werk von Ilse Aichinger einzulassen, welches in seiner Einzigartigkeit für das 20. Jahrhundert steht und zugleich in seiner existentiellen Dimension zeitlos ist“, so die Regisseurin Christine Nagel.

Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga wurden am 1. November 1921 in Wien geboren. Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 verlor ihre jüdische Mutter, die als Ärztin arbeitete, ihre Arbeit. Helga konnte dank der Kindertransportbewegung nach Großbritannien emigrieren, aber der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte die bereits geplante Ausreise der restlichen Familie. Die Brüder der Mutter sowie die Zwillingsschwestern der Großmutter wurden 1942 deportiert und im Konzentrationslager Maly Trostinec in Minsk umgebracht. Während des Krieges musste Ilse Aichinger, die als Halbjüdin erster Klasse mit zwei semitischen Großeltern galt, in Wien Zwangsarbeit leisten. 1945 begann sie ein Medizinstudium, das sie jedoch zwei Jahre später abbrach, um ihren Roman „Die größere Hoffnung” fertigzustellen, der 1948 erschien. 1952 veröffentlichte sie den Roman „Spiegelgeschichte”, der mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet wurde, der ersten großen Auszeichnung für die Schriftstellerin, der noch viele weitere folgten. Ilse Aichinger schrieb Lyrik, Prosa und Hörspiele. Ilse Aichinger verstarb am 11. November 2016.

Christine Nagel lernte Ilse Aichinger bei einer gemeinsamen Hörspiel-Arbeit im Jahr 2001 kennen – ein halbes Jahr vor ihrem 80.Geburtstag, als die Schriftstellerin noch täglich durch Wien zog, jede Gasse kennend, und am Abend in bis zu drei Kinos ihre Zeit verbrachte – der Stadtraum Wien war ihr Zuhause geworden. Der erste Besuch bei Ilse Aichinger dauerte länger als gedacht, und führte dazu, daß die Filmemacherin über viele Jahre hinweg die Autorin besuchte – bis heute. Sie teilten Zeit und Raum im Kinosaal, der für Ilse Aichinger die ersehnte Möglichkeit war „zu verschwinden“. Sie zogen von Kaffeehaus zu Kaffeehaus, an Orten und Plätzen vorbei, die Ilse Aichinger prägten.

Christine Nagel ist Autorin und Regisseurin. Sie arbeitet seit 1996 im Bereich Hörspiel und Feature für die ARD. Während ihres Magisterstudiums der Sprachwissenschaften, Geschichte und Politikwissenschaften in Gießen, arbeitete sie als Regieassistentin an Theatern in Gießen und Wiesbaden. Sie wohnt seit 1994 in Berlin, und war dort Ende der 90er Jahre als Produktions- und Aufnahmeleiterin bei Kinodokumentarfilmen tätig.

Wo ich wohne – Ein Film für Ilse Aichinger

Österreich, 2014

Buch/Regie: Christine Nagel

Kamera: Isabelle Casez, Helmut Wimmer

Schnitt: Niki Mossböck

Tonmischung: Christofer Frank

Musik: Gerd Bessler

Produktionsleitung: Andrea Minauf

Produzent: Kurt Mayer, kurtmayerfilm Wien

Protagonisten: Ilse Aichinger, Helga Michie

Darsteller: Verena Lercher, David Monteiro, Elfriede Irrall, Florentin Groll, Moritz Uhl